SpurenStellen Sie sich einen Strand vor – früh am Morgen. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen, der weiche, weiße Sand ist noch feucht und klamm vom Tau der letzten Nacht. Die Wellen haben ihn überspült und gemeinsam mit einem sanften Wind alle Spuren des Vortages getilgt. Rein und unschuldigt liegt er vor uns, so wunderschön in seiner Unberührtheit. Und dann komme ich, bewundere die Schönheit und bin zugleich getrieben von einem übermächtigen Wunsch, dem ich mich nicht verwehren kann. Setze einen Fuß auf den unberührten Sand, am besten barfuß. Lasse den Zweiten folgen. Laufe immer weiter, nehme mehr jungfreulichen Sand mit meinen Fußabdrücken in Besitz. Drehe mich um und bewundere meine eigenen Fußspuren. Als wären sie ein Wunder. Ein Abdruck meiner Persönlichkeit. Dabei ist es nur das Gewicht meines Körpers und die Form meiner Füße. Und ich bedauere ein wenig, dass im Laufe des Tages unzählige Spuren dazukommen werden, die meine überlagern. Sie sind nur von so kurzer dauer, so vergänglich. Noch viel vergänglicher als ich, flüchtig wie ein gesprochenenes Wort. Nur ein Moment im unendlichen Strom der Zeit.

Er schlummert in jedem von uns, dieser geheime Wunsch zu überdauern. Spuren zu hinterlassen auf einer Welt, von der wir wissen, dass alles in und auf ihr vergänglich ist. Wir sind immer seltener spirituell und glauben nicht mehr an ein Leben nach dem Tod und wünschen uns doch vielleicht gerade deshalb, dass irgendetwas von uns bleibt.

Aus diesem Grund möchte ich eine gewagte These in den Raum stellen:

Dieses Phänomen, dass ich mit den Spuren im Sand versucht habe zu skizzieren, ist der Grund dafür, warum es niemanden wirklich stört, wenn eine graue Emminzenz wie die NSA gottgleich alles überwacht, alles speichert und mitschneidet. Viele sagen: “Ich habe ja nichts zu verbergen!” und tun, so als würde es sie deshalb nicht betreffen. Aber das ist allerhöchstens die halbe Wahrheit. Tatsache ist doch, dass es meinen Gedanken und Worten Bedeutung verleiht, wenn jemand sie für wichtig genug hält, um sie festzuhalten, zu speichern, zu bewahren. Natürlich sind unsere Möglichkeiten Spuren zu hinterlassen vielfältiger geworden. Und auch nachhaltiger, denn das Internet vergisst nichts so schnell wieder. Aber welch großartiges Gefühl ist es doch, wenn man weiß, da interessiert sich jemand, auch wenn man nicht genau weiß wer? Das ist wie bei kleinen Kindern, denen die Mutter gesagt hat, dass Gott sie beobachtet und die sich mit einem leichten Grausen und einem seltsam aufgeregtem Kribbeln vorstellen, wie ein Gott – eine nicht sichtbare Eminenz – sie beobachtet, bei allem was sie tun. Er weiß alles und vergisst nichts. Ist es nicht schön zu wissen, dass wenigstens irgendwer über uns wacht?

Um zu meiner anfängliche Skizze zurückzukehren: Heute könnte ich mit dem Handy ein Bild von meinen Fußspuren machen, es auf Facebook oder Twitter veröffentlichen oder hier einen Text darüber schreiben. Vergänglichkeitsproblem gelöst. Nur leider verschwindet damit auch der Zauber des Augenblicks. Denn wenn man einmal genauer darüber nachdenkt, dann sind es nicht die die sichtbaren Spuren, die wir hinterlassen, die dem Leben einen Sinn geben. Es ist gerade unsere Vergänglichkeit und die unsichtbaren Spuren in den Herzen der Menschen, die wir lieben.