zu Gast im ‘Sinneswandel’

“Hallo ich bin Marcel, ich werde Sie durch den heutigen Abend begleiten!” Der blinde Mann streckt uns die Hand hin, einer nach dem anderen ergreifen wir sie, nennen ihm unsere Namen. Dann halten wir uns aneinander fest, gehen durch die erste Tür, schließen die zweite Tür hinter uns. Es ist stockfinster. Man glaubt ein rotes Flimmern vor den Augen zu sehen, aber das ist Einbildung. Tatsächlich sieht man einfach nur Schwärze. Als wir alle am Tisch sitzen, erklärt Marcel uns, wo unser Besteckt liegt, Gabel und Feuchttuch links, Messer und Löffel rechts. Das Dessertbesteck oben, in der Mitte die Serviette. “Auf dem Tisch steht ein Brotkorb mit einem Dip in der Mitte, damit dürfen Sie schon einmal beginnen!” Alle tasten in Richtung Mitte.

Vom anderen Ende des Tisches kommt ein trockenes: “Ich habe den Dipp gefunden!” Wir lachen, es klingt wie eine Mischung aus aufgedreht und leicht hysterisch. Man hat das Gefühlt die Augen verzweifelt immer weiter aufzureißen, als müsste man sich irgendwann an die Dunkelheit gewöhnen. Doch alles bleibt schwarz.

Marcel kommt mit unseren Getränken zurück, stellt die Weingläser ab und die Wassergläser. Die Wasserflasche stellt er in einem Kühler mitten auf den Tisch. Das müssen wir selbst machen. Klappt auch ganz gut, bei fast allen. Nur mein Liebster schimpft: “Da kommt ja gar nichts raus!” Erst nach mehrern Versuchen sein Glas zu füllen, stellt er fest, dass der Deckel noch (oder wieder) auf der Flasche ist.

Richtig schwierig wird es mit der Vorspeise. Es ist unproblematische die Gabel zum Mund zu führen, aber zu oft ist nichts drauf. Ich stelle zu spät fest, dass ich den halben Salat vom Teller geschoben habe. Der Geruch ist Klassen, der Knoblauch vom Bruschtetta duftet, aber das Essen kostet so viel Konzentration, dass der Geschmack fast nebensächlich wird. Während wir vier mit dem Essen beschäftigt sind, verstummt unserer Gespräch, ab und zu kommentiert einer seine Tapsigkeit. Alle sind froh, dass niemand sieht, wie blöd man sich anstellt.

Das ist glaube ich das Schlimmste. Blind unter lauter Sehenden, die beobachten können, wie sich jemand abmüht und kleckert und mit dem Besteckt auf der Suche nach dem letztes Salatblat seinen Teller mit dem Messer oder gar den Händen abtastet. Spätestens jetzt wird auch klar, weshalb das Feuchttuch an jedem Platz liegt. Automatisch lehnt man sich tiefer über den Teller, dann ist auch der Weg vom Mund zu Gabel nicht mehr so weit.

Die Suppe ist leichter. Der Teller ist tief, der Löffel auch, wir können uns ein wenig entspannen. Mein Schatz muss raten, was er zu essen bekommen hat, da er das Überraschungsmenü bestellt hat. Das sorgt für unsere Erheiterung, ihn stresst es eher.

Zwischendurch rätseln wir über die Raumgröße, die Anzahl der Tische. Ettliche Tische scheinen besetzt.  Alles was man sonst mit einem Blick zu Kenntnis nehmen würde, scheint auf einmal unglaublich interessant, da wir nicht mehr in der Lage sind es zu beurteilen.

Der Hauptgang wird eine Herausforderung. Man möchte ja keinesfalls sein Essen mit den Fingern befühlten, also nimmt man Messer und Gabel, findet Wiederstände versucht etwas zu schneiden oder aufzuspießen. Führt die Gabel zum Mund – wieder leer. Wir fluchen, essen, kommentieren was wir da haben. “Oh eine Tomate!” “Wo ist mein Fisch, ich hatte doch vorhin ein Stück!” Es ist lustig und zugleich unglaublich anstrengend. Es dauert länger als üblich bis der Teller leer ist. Wir sind ein wenig erschöpft.

Zum Dessert gibt es Espresso, auf dem Dessertteller hat jeder von uns eine Kugel Eis. Das ist das absolute non plus ultra an Herausforderung. Das Eis rutsch weg, wenn man es mit dem Löffel erdolchen will. Das kuchenartige etwas auf meinem Teller schaffe ich zwar aufzuspießen, merke aber schnell, dass das Stück zu groß ist, um es mit auf einmal in den Mund zu schieben. Endlich ist auch das Dessert geschafft.

Ja, wir sind erleichtert. Wir blinzeln erleichtert dem gedimmten Licht der Bar entgegen, wo wir unsere Bestellung aufgegeben haben (zur Wahl standen vier verschiedene Menüs). Auf einem kleien Bildschirm können wir uns noch einmal Bilder von unserem Essen ansehen. Wenn es wirklich so angerichtet war, wovon ich ausgehe, dann sah es gut aus.

Marcel verabschiedet sich, er hat Feierabend, es muss noch nach Chemnitz, den Zug bekommen. Wir stehen wieder im Licht. Seine Welt ist immer noch dunkel – bildlos.

Es war interessant und zugleich bedrückend. Der einzge Grund, warum man sich wohlfühlt, resultiert aus dem Wissen, dass es nur ein Spiel ist, nur ein Versuch. Das man nur zu fragen braucht und man wird wieder ans Licht geführt. Essen muss für sehbehinderte Menschen eine besondere Herausforderung sein. Sie müssen viel Vertrauen haben. Für uns ist es eine Grenzerfahrung.

Nicht sehen zu können, was sich auf dem Teller befindet, bedeutet mehr als nur hohe Konzentration und unglaubliche Anstrengung beim Essen. Es bedeutet auch, dass einem ein Sinneseindruck fehlt, auf den wir uns normalerweise hundert Prozentig verlassen. Man sollte glauben, man würde mehr riechen, mehr schmecken in dieser Dunkelheit. Aber das stimmt nicht wirklich. Ohne das Bild, hatte ich fast das Gefühl weniger zu schmecken, weniger genießen zu können. Dauernd muss man raten, was man gerade auf der Gabel hatte, Tomate, Pilz? Man spürt die Konsistenz. Und dann fragt man sich, wenn man nicht wüsste, wie es aussieht, würde man es dann überhaupt erkenne? Wenn ich merke, es ist eine Tomat, stelle ich mir diese wunderschöne rote Frucht vor. Was denkt der Blinde? Welches Konzept von Tomate hat er im Kopf?

Es war ein Erlebniss, dass ich nicht missen möchte, von dem ich aber nicht weiß, ob ich es wiederholen wollen würde. Verstörend klingt so hart, aber das trifft es … ein bischen.